Seite 4 - AK_Stadt_2_2012

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AK Stadt · Seite 4
J
edes zweite Wiener Volksschulkind hat
Migrationshintergrund, beinahe 40 Pro-
zent der WienerInnen sind zugewandert.
Kein neues Phänomen: Die Sozialhistorikerin
Annemarie Steidl erklärt, dass sich die Wie-
ner Bevölkerung allein zwischen 1850 und
1900 durch Zuwanderung auf über 1,6 Milli-
onen vervierfacht hat.
Wien, Stadt der ZuwanderInnen
Ende des 19. Jahrhunderts hatten 60 Pro-
zent der WienerInnen Migrationshintergrund.
Sie wanderten vor allem von Böhmen, Mäh-
ren, Ungarn, Galizien, Serbien und Kroatien
nach Wien. Dieses Aufeinandertreffen ganz
unterschiedlicher Kulturen hat die kulturelle
Blüte des einstigen Wiens erst ermöglicht,
doch es fand in einem Umfeld großer sozia-
ler Verwerfungen statt. Die Wohlhabenden
blieben in der Innenstadt und einigen noblen
Außenbezirken unter sich. Der Platz der
Armen, großteils MigrantInnen, war die Vor-
stadt und (buchstäblich) die Erdlöcher vom
Wienerberg.
Migration findet immer statt
Vergangenes Jahr sind über 130.000 Men-
schen nach Österreich zugezogen, doch
beinahe 95.000 haben Österreich verlassen.
Die Zuwanderung in alle 24 OECD-Staaten
beträgt jährlich zwischen 4 und 5 Millionen
Menschen – ständige Zu- und Abwanderung
ist Normalität. Sie ist Voraussetzung für wirt-
schaftliche Dynamik und gesellschaftliches
Funktionieren.
Doch Migration geht keineswegs span-
nungsfrei vor sich und es kommt auf die
Gestaltung des Prozesses an: Sozialdarwi-
nistisch mit ausgeprägter Segregation – wie
im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts
– oder begleitet von einer Sozialstaats- und
Integrationspolitik, die auf die Bereiche
Arbeitsmarkt, Bildung, Wohnen und öffentli-
cher Raum lenkend einwirkt.
MIGRATION UND INTEGRATION
Wiener Integration heißt
Chancen für uns alle!
Die Zuwanderung nach Wien hat Geschichte, sie belebt unsere Stadt in
der Gegenwart, ebbt nicht ab und wirft spannende Fragen für das künfti-
ge Miteinander auf. Ein Plädoyer für das Gemeinsame.
Von Josef Wallner
Zusammenfassung
Ohne Migration funktioniert
keine moderne Stadt.
Entscheidend ist: MigrantInnen
sollen sich integrieren, aber
nicht unterwerfen und sie
­müssen das Recht haben, die
Gesellschaft mitzuprägen.
­Integration kann nur durch die
gleichberechtigte Teilhabe an
den sozialen und wirtschaftli-
chen Ressourcen und Entschei-
dungen stattfinden. Keine
Gruppe darf sozial vernachläs-
sigt werden – weder Zuwande-
rInnen noch Einheimische. Doch
derzeit arbeitet noch ein Drittel
der MigrantInnen unterhalb
ihrer Qualifikationen.
Thema
Autor:
Josef Wallner ist Leiter
der Abteilung Arbeits-
markt und Integration
der AK Wien. Er stu-
dierte in Wien und
­Fribourg (Schweiz) .
Migration benötigt Integration, denn sonst
mangelt es an sozialem Zusammenhalt in der
Gesellschaft. Sollen sich also ZuwanderInnen
soweit anpassen, dass sie möglichst nicht
mehr auffallen? Nein, das ist keinesfalls Integ-
ration. Der Begriff wird häufig in Frage gestellt,
weil ihn manche faktisch mit Assimilation
gleichsetzen und in eine Bringschuld der
ZuwanderInnen umdeuten. Fakt ist, dass in
jeder funktionierenden Gesellschaft laufend
Integrationsprozesse stattfinden. Wir alle sind
daran mehrfach beteiligt: Wir integrieren uns
in Schule, Betrieb oder in ein neues Wohn-
umfeld. Das heißt, wir ordnen uns in vorge-
fundene Strukturen ein, beginnen aber auch
sehr rasch damit, diese Strukturen mitzu­
tragen und mitzuprägen. Umgekehrt müssen
die Kinder, KollegInnen und NachbarInnen in
unserem neuen Umfeld auch bereit sein,
à
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