Seite 9 - AK_Stadt_2_2012

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schaftskonflikten kommt. Die einen lärmen
oft, die anderen verhalten sich immer gehäs-
sig – das klassische Vorwurfsmuster zwi-
schen Alt- und Neo-WienerInnen. Manche
dieser gegenseitigen Vorwürfe dürften aus zu
großer Nähe in zu hellhörigen Häusern und
aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher
Generationen herrühren. Sind die Konflikt-
parteien unterschiedlicher Herkunft, wird der
Streit kulturalisiert. In einkommensstarken
Innenstadtbezirken fallen solche interethni-
schen Konflikte weniger scharf aus, freilich
sind dort auch die Wohnverhältnisse und die
soziale Lage besser. Scheinbar ethnisch
begründete Konflikte können also auch sozi-
ale Bedrängtheit zur Ursache haben. Dafür
sprechen auch Forschungsarbeiten, wonach
in Wien manches deshalb besser läuft als in
anderen Großstädten, weil die soziale und
ethnische Segregation im Wohnbereich im
Vergleich geringer ausgeprägt ist. Ursache
dafür sind neben historischen Zufälligkeiten
eine gezielte und bewusst auf soziale Durch-
mischung bedachte Wohn- und Kommunal-
politik, die gerade in einkommensschwäche-
ren Bezirken auf lebenswerte Gestaltung des
öffentlichen Raums achtet. Hingegen führt
die vorherrschende Ghettosituation in den
französischen Banlieues und den ethnisch
und sozial stark separierten Wohnbezirken
Londons immer wieder zu offenen sozialen
Unruhen.
Die Zukunft heißt Zusammenhalt
Jugendliche MigrantInnen stürmen eine
Schule und liefern der Polizei Straßenkämpfe,
schreibt Martin Schenk in seinem Buch „Die
Integrationslüge“. Die Rede ist von einer
sozialen Revolte in Ottakring von 1911. Die-
ses Szenario steht heute nicht bevor. Der
große Unterschied zu damals: Eine insge-
samt erfolgreiche Sozial- und Wirtschaftspo-
litik mildert soziale Verwerfungen und eine
auf Integration gerichtete Kommunal- und
Wohnpolitik vermindert Segregationstenden-
zen. Auch die anderswo imWohnbau unübli-
che Objektförderung und der hohe Bestand
an Gemeindewohnungen, viele davon in
besten Lagen, spielen hier eine maßgebliche
Rolle. Das bietet Steuerungsmöglichkeiten
und reduziert – durch ein größeres Angebot
an leistbarem Wohnraum – das Gedränge
auf demWohnungsmarkt.
Wien hat ausreichend Potenzial für einen
guten Zusammenhalt der BürgerInnen, doch
wir müssen uns weiterhin entscheidenden
Fragen stellen (siehe auch Kasten Seite 5).
Es gilt, täglich am gelassenen Umgang mit
kulturellen Unterschieden zu arbeiten – für
MigrantInnen und NichtmigrantInnen glei-
chermaßen.
INTERVIEW
Im Marathon zusammenwachsen
Wien ist österreichischer Vorreiter in der
Integration. Sozialwissenschafter Kenan Güngör
sagt, worüber wir jetzt reden müssen.
Wie vielfältig ist Wien?
Städte
sind weltweit erst durch Zuwande-
rung – sei sie national oder interna-
tional – und nicht durch eigenes
Bevölkerungswachstum zu Städten
geworden. Das heißt: Zuwanderung
war und ist ein Bestandteil der
Stadt. Rund 40 Prozent der öster-
reichischen Gesamtzuwanderung
trifft Wien, ungefähr 60 Prozent der
Wiener Geburten haben Migrati-
onshintergrund. Das Thema Integ-
ration hat in den letzten 20 Jahren
enorm an Bedeutung gewonnen.
Und Fragen aufgeworfen...
Wien hat vergleichsweise relativ
früh auf diese Herausforderung
reagiert und z.B. den Integrations-
fonds gegründet. Vieles hat mit der
Vereinsförderung, der Unterstüt-
zung einzelner Gruppen, begonnen.
Was hat sich verändert?
Integra-
tion ist kein Einzel- bzw. Sonder-
projekt mehr, sondern eine Quer-
schnittsmaterie, die durch alle
Gesellschaftsbereiche geht. Wenn
sich die Gesellschaft so pluralisiert,
müssen wir als Stadt fit für diese
Internationalität sein.
Wo sehen Sie Defizite?
Bei der
Bildung gab es Versäumnisse,
denn ein hoher Anteil von Migran-
tenkindern schafft den Bildungs-
aufstieg nicht hinreichend. Doch
die neue Mittelschule und die
Modellprojekte in Wien gehen ten-
denziell in eine richtige Richtung,
ebenso wie die Haltung der Stadt
Wien gegen eine zu frühe
Bildungs­selektion.
In der Bevölkerung gibt es
enorme Vorurteile...
Negative Ste-
reotypen sind von manchen
Medien und Parteien wie der FPÖ
sehr gut genährt worden. Das
Schweigen oder das in die rechte
Ecke spielen der anderen Parteien
hat sein Übriges getan. Dieser ein-
dimensionale, gehässige Diskurs
wurde 20 Jahre lang sehr kultiviert,
also darf sich niemand über die
Stimmung in der Gesellschaft
­wundern. Der Ansatz, den verunsi-
cherten und zum Teil mit Ressenti-
ments beladenen Bevölkerungs-
gruppen konstruktive Perspektiven
zu vermitteln, ist noch weiter aus-
zubauen. Projekte wie die Wiener
Charta gehen in diese Richtung.
Worauf müssen wir achten?
Wir müssen einerseits weg von
der doppelbödigen zum Teil zyni-
schen Haltung „Integriert euch,
ohne dazuzugehören“. Dadurch
schafft man kein Vertrauen son-
dern schürt das Gegenteil.
Anderer­seits muss es jenseits des
polarisierenden Bezichtigungs­
diskurses von „Ihr könnt nichts
dafür, und wir schützen euch Mig-
ranten“ und „Die Migranten wollen
sich nicht integrieren und sind an
allem schuld“ einen dritten ver-
nünftigen Weg geben.
Worüber sollten wir reden?
In welche Richtung wir gehen
­wollen und wie wir es schaffen
werden – das nenne ich konstrukti-
ven, zukunftsorientierten Realis-
mus. Wie wollen wir z.B. einerseits
mit zunehmender Religiosität und
andererseits mit der immer säkula-
rer werdenden Gesellschaft umge-
hen. Integration benötigt Zeit, wir
brauchen Marathonläufer und
keine Sprinter.
Kenan Güngör, 1969 im kurdischen
Teil der Türkei geboren, ist Sozial-
wissenschafter und Experte für
Integrations-, Diversitäts- und Steu-
erungsfragen. Er leitet das Büro
[difference:] in Wien.
www.think-difference.org
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