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AK FÜR SIE 06/2015
Arbeitsrecht
Fotos: Lisi Specht
Eine Interviewerin wird extrem gegängelt und
unterbezahlt, ein Tanzlehrer verliert den Job, als
er sich sozialversichern will: Immer öfter versu-
chen Firmen, geltendes Recht zu unterlaufen.
16 Cent mehr für
„Zuverlässigkeit“
Julio Lepe vor dem Arbeits- und Sozialgericht
Wien mit AK Rechtsschützerin Julia Vazny-König
Andrea T. macht Telefonumfragen. Die Ex-Fir-
ma beschäftigte sie als freie Dienstnehmerin,
regelte ihre Arbeit aber bis ins kleinste Detail
P
ausen gab es nur in der ersten und
in der letzten Stunde eines Fünf-
Stunden-Dienstes. Kontrolle war
alles und Zeit war Geld: Andrea T.
musste in einem renommierten ös-
terreichischen Marktforschungsinstitut ihre
Telefonumfragen auf die Minute genau ab-
rechnen. Bei jeder noch so kurzen Arbeits-
unterbrechung, wie etwa einer Toilettenpau-
se,musstesiesichausdemSystemaus- und
später wieder einloggen. „Je weniger wir
auf Pause gegangen sind, desto mehr Mi-
nuten konnten wir zur Abrechnung erwer-
ben. Das System hat die Selbstausbeutung
extrem begünstigt“, schildert Andrea T.
Andrea T. und ihre KollegInnen arbeite-
ten mit einem freien Dienstvertrag: Das
heißt, sie hatten formal weniger Sozialleis-
tungen als fix Angestellte und auch weniger
Verpflichtungen der Firma gegenüber. Den-
noch wurden sie kontrolliert bis auf den
kleinsten Handgriff. Das Zeiterfassungssys-
tem beurteilte auch die „Zuverlässigkeit“
der InterviewerInnen. Wer zu spät kam oder
die Pause überzog, dem wurde das Entgelt
für drei Monate gekürzt. Wenn es die Be-
schäftigten zu einer besonderen Zuverläs-
sigkeitsstufe gebracht hatten, erhöhte sich
der Stundenlohn von acht Euro auf ganze
acht Euro und 16 Cent.
Extreme Kontrollen
Zur Qualitätssicherung konnte die Firma
die Gespräche jederzeit mithören und kon-
trollieren, ob die MitarbeiterInnen das
nächste hereinkommende Telefonat auch
annahmen. Es gab detaillierte Anweisun-
gen zu den Interviews.
„Man war immer mehr bereit, mehr
Kontrolle und weniger Reallohn in Kauf zu
nehmen“, sagt Andrea. Für viele sei es
schließlich der Hauptjob gewesen, von
dem sie lebten und ihre Familien er-
nähren mussten.
„Das ist ein typisches Beispiel,
wie Beschäftigte zu schlechteren
Bedingungen
be-
schäftigt, dann aber
wie fix Angestellte
genutzt und dazu
noch übermäßig kon-
trolliert werden“, sagt
AK Rechtsschützerin
Karmen Riedl.
Die AK hat für Andrea T. und 44
weitere KollegInnen geklagt. Haupt-
argument der AK vor Gericht: So
reglementiert wird nur in einem fes-
ten Arbeitsverhältnis gearbeitet. Die ersten
acht Fälle hat die AK jetzt gewonnen und
für diese insgesamt 84.000 Euro brutto an
Nachzahlungen von Abfertigungen, Son-
derzahlungen und Urlaubsersatzleistun-
gen erreicht. „So viel Geld versuchte sich
die Firma allein in diesen Fällen zu erspa-
ren, indem sie mit freien Dienstverträgen
geltendes Arbeitsrecht unterwandert hat“,
sagt AK Rechtsschützerin Riedl. Immer öf-
ter würde gerade in Branchen, in denen es
an Job-BewerberInnen nicht mangelt, gel-
tendes Recht unterlaufen.
Andrea T. spricht gerne
mit Menschen und mag ihren
Beruf nach wie vor. Sie führt
weiter Telefon-Interviews, al-
lerdings für einen anderen
Arbeitgeber und nun zu fai-
ren Bedingungen, fest ange-
stellt. „Man muss sich des
Werts seiner Arbeit bewusst sein und für
sein Recht kämpfen.“
Julio Lepe erinnert sich noch genau an
den Abend, an dem er seinen Job verlor. Der
aus Mexiko stammende Profitänzer hatte seit
mehr als zehn Jahren Latino-Jazz, Zumba
„Man muss sich des
Werts seiner Arbeit
bewusst sein und
für sein Recht
kämpfen.“
Andrea T.,
Interviewerin