Background Image
Previous Page  13 / 36 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 13 / 36 Next Page
Page Background

ihrer Argumentation steht eine Vision,

die JohnMaynard Keynes, einer der prä-

gendsten Ökonomen des 20. Jahrhun-

derts, bereits 1930 zu Papier brachte.

Demnach würde bereits die Generation

seiner Enkelkinder durch den technolo-

gischen Fortschritt in einem materiellen

Wohlstand leben, der eine massive Re-

duktion der notwendigen Arbeitszeit er-

möglichen und damit Zeit für Tätigkeiten

jenseits der Erwerbsarbeit schaffen wür-

de. Trotz der tatsächlich erfolgten Wohl-

standsmehrung im Laufe des 20. Jahr-

hunderts scheinen aber zwei Faktoren

zu verhindern, dass die westlichen Ge-

sellschaften diese Chance auch erken-

nen: Einerseits wurden die Menschen im

Laufe der kapitalistischen Entwicklung

an die vermeintliche Unersättlichkeit ih-

rer Konsumbedürfnisse gewöhnt. Ande-

rerseits schließt die Ungleichverteilung

des Wohlstands breite Teile der Bevöl-

kerung weiterhin von einer dem europä-

ischen Entwicklungsstand angemesse-

nen Teilhabe am Konsum aus.

Die Skidelskys möchten nun die Wirt-

schaftswissenschaften als moralische

Instanz reanimieren. Dem von der neo-

klassischen Ökonomie beschworenen

Nutzenkonzept, das von der Unendlich-

keit individueller Bedürfnisse ausgeht,

stellen sie erneut das Konzept der Ge-

brauchswerte erstrebenswerter Güter

gegenüber. Ihnen geht es um die Sen-

sibilisierung der Bevölkerung für die As-

pekte des guten Lebens. ImUnterschied

zu Nussbaum definieren sie universell

gültige Basisgüter, die ihrem Verständ-

nis nach in allen Kulturen für ein gutes

menschliches Leben als unverzichtbar

gelten, nämlich Gesundheit, Sicherheit,

Respekt, Persönlichkeit, Harmonie mit

der Natur, Freundschaft und Muße. Die

erste Pflicht des Staates sei es, die ma-

teriellen Voraussetzungen für die Errei-

chung dieser Güter zu schaffen sowie

eine hinreichende Verteilung des Wohl-

stands zu gewährleisten; ein wertneut-

rales (neo)liberales Staatswesen ist dazu

offensichtlich nicht in der Lage. Ob der

Einzelne dann dieseMöglichkeiten nutzt,

und wie er mit Zielkonflikten in der Er-

reichung von Basisgütern umgeht, bleibt

hingegen eine individuelle Entscheidung.

Politik des guten Lebens

Die Idee eines guten Lebens für alle

impliziert insofern eine radikale Ver-

schiebung des Blickwinkels auf das Ver-

hältnis von Ökonomie und Gesellschaft,

als die Entwicklung der menschlichen

Grundfähigkeiten bzw. der universelle

Zugang zu denBasisgütern in den Fokus

rücken. Sicherheit erfordert planbare

Erwerbsbiographien und langfristig ab-

gesicherte Wohnverhältnisse, Muße ein

ausreichendes Maß an Zeitsouveränität,

Respekt eine Begegnung auf Augenhö-

he. Harmonie mit der Natur setzt den

Zugang zu wertvollen Umweltgütern vo-

raus, Gesundheit jenen zu guter Ernäh-

rung und Gesundheitsdiensten. Und die

Entwicklung einer Lebensplanung, die

der eigenen Persönlichkeit entspricht,

ist ohne ausreichende Bildung kaum

vorstellbar. Eine Gesellschaft, die zu-

nehmend von Arbeitslosigkeit, prekärer

Beschäftigung und der Polarisierung

von Einkommen und Vermögen gekenn-

zeichnet ist, lässt sich mit diesem Bild

schwerlich in Einklang bringen.

Wo aber ist nun anzusetzen? Robert

und Edward Skidelsky fordern neben

Beschränkungen des internationalen

Handels und der Werbung (!) ein bedin-

gungsloses Grundeinkommen sowie

(progressive) Steuern auf Konsum, Ver-

mögen, Finanztransaktionen und CO

2

-

Emissionen. Für die IG Metall und die

Allianz der Wiener Tagung bilden neben

Fragen der Energiewende und der Re-

gulierung der Finanzmärkte vor allemdie

umfassende Demokratisierung der Pro-

duktionsverhältnisse und gute Arbeit für

alle Kerne der Überlegungen. In sämt-

lichen Visionen wird die Notwendigkeit

eines handlungsfähigen öffentlichen

Sektors betont. Teile der Postwachs-

tumsbewegung setzen daneben viel

Hoffnung auf lokale Selbstversorgung.

Damit bleibt vorerst noch viel Raum für

konkrete Initiativen im Sinne des guten

Lebens für alle.

¨

Hintergrund

Lässt sich das gute Leben messen?

In der Ökonomie ist die Frage eines

guten Lebens eng mit der Messung

gesellschaftlicher Wohlfahrt verbun-

den. Jeremy Bentham (1748–1832),

der Begründer der utilitaristischen

Ethik und Vordenker der klassischen

Ökonomen, definierte das „größte

Glück der größten Zahl“ als Maxime

politischen Handelns. Wie aber wird

dieses ermittelt? Seit den 1930er

Jahren soll die Erhebung des Brut-

toinlandsprodukts (BIP) eine besse-

re Steuerung der Volkswirtschaft er-

möglichen. Als Wohlfahrtsindikator

ist das BIP hingegen nur begrenzt

geeignet, lässt es doch selbst zu

zentralen Aspekten wie Gesundheit,

Verteilung des Wohlstands oder

Qualität der Umwelt und öffentlicher

Institutionen keine Aussagen zu.

Seit langem wird daher versucht,

die Wohlfahrtsmessung zu verbes-

sern. Der „Human Development

Index“ der UNO vergleicht den

Entwicklungsstand von Gesellschaf-

ten bereits seit 1990 anhand einer

kombinierten Maßzahl, die auch die

Lebenserwartung und den Bildungs-

stand berücksichtigt. Seit 2011

erhebt die OECD den „Better Life

Index“, der in elf Dimensionen – von

Wohnverhältnissen bis „Work-Life-

Balance“ – die Lebensqualität in

ihren Mitgliedstaaten beurteilen soll.

Daneben veröffentlicht die Statistik

Austria auf der Grundlage europäi-

scher Diskussionen im Bericht „Wie

geht’s Österreich?“ Zeitreihen zu

Wohlstands-, Lebensqualitäts- und

Umweltindikatoren.

It measures everything […] except

that which makes life worthwhile.

US-Senator Robert Kennedy über das Bruttoinlandsprodukt, 1968

www.arbeiterkammer.at

Wirtschaft & Umwelt 2/2015

Seite 13